Nur ein kleiner Segelausflug... (2003)

Ein Törnbericht von Bernd W. Wortmann über einen "Fünf-Länder-Törn“ mit der Segelyacht "Bianca" vom 12.07. bis 16.08.2003 in Nord- und Ostsee.

"Noch'n Bierchen?" Mit einem kurzen "Äh, jau!" schreckte ich auf die aufmunternde Routine-Frage meines Freundes Uwe aus einem dösigen Halbschlaf an der Theke hoch. 
Tja, da saßen wir nun in einer dieser verwegen-gemütlichen Hafenkneipen von Oostende in Belgien, im Juli 2002. Unser so hoffnungsvoll begonnener, ehrgeiziger Zweiwochen-Törn, mal eben von Workum, Ijsselmeer, dem Heimathafen unserer Segelyacht "Bianca“, bis zu den Channel Islands Guernsey und Jersey und zurück, war bereits nach 4 Tagen sang- und klanglos mit einigen belgischen Bierchen hinweggespült worden. Giftig-ruppige 6 bis 7 Windstärken ausgerechnet aus West-Südwest, Tendenz zunehmend, nagelten uns in Oostende fest.

Aber genau dies war die Geburtsstunde unseres Segelausflugs 2003 durch Nord- und Ostsee. Denn vor einigen Jahren, beim Kauf unserer Bianca, hatten wir uns für jedes Jahr einen besonders spektakulären Urlaubstörn vorgenommen. "Plautze kriegen", alt und träge werden, das konnten wir schließlich immer noch. Da dieser Törn nun ziemlich unspektakulär "nur“ bis Oostende gelaufen war, musste für 2003 wieder etwas Neues, Gruseliges her. So kam ich auf die Idee, ähnlich wie schon 2001, noch einmal Schottland bis Inverness anzusteuern, weiter durch den Caledonian-Canal und Loch Ness in die Irische See, von dort über die Orkneys nach Norwegen bis Oslo zu segeln – alles in gelangweilten drei Wochen - und mich dort von Uwe ablösen zu lassen, der dann in einem betulichen Zwei-Wochen-Rücktörn durch die Ost- und Nordsee unser Schiff wieder nach Hause schippern sollte.

"Schaffst Du nie, völlig abgedreht, alles in 3 Wochen!“ meinte Uwe. "Ach, erst mal versuchen, ist doch sowieso nicht richtig planbar, da Poseidon uns jederzeit ne Harke zeigen kann, aber stell Dir 'mal vor, wenn wir im Schnitt mit einem Speed von 7 Knoten…." träumte ich schon vorplanend. Jedenfalls wuchs der Optimismus mit jedem Bierchen, schließlich waren wir 2001 mit einer 4-Mann-Crew auch bis Inverness gekommen und hatten dort dann nur wegen eines Sturms und einiger vorher in diversen Bars und Destillerien leichtfertig verplemperten Tagen die Rückfahrt nach Workum antreten müssen. Völlig klar: als wir die Kneipe verließen, war der Törn 2003 jedenfalls beschlossene Sache.

Zurück in Münster, musste erst einmal eine hartgesottene Crew aufgetrieben werden. Das war nicht einfach, irgendwie war der Watt-Wurm drin, denn jedes Mal, wenn wir von unserer Törnplanung und den entsprechenden Seegebieten erzählten, mussten wir hören, dass unsere segelerfahrenen Freunde und Bekannten gerade zu dieser Zeit bereits etwas anderes vorhatten. Uwe konnte schließlich seinen alten Kumpel David überreden, für die zweite Törn-Etappe zurück nach Workum wenigstens in Skagen anzumustern, während es bei mir mit der ersten Etappe ziemlich zappenduster aussah. Was lag da näher, als bei einem der monatlichen Stammtisch-Abende in unserer Vereinskneipe "Kruse Baimken" in konspirativer Runde mit blumig ausgeschmückten Geschichtchen von einsamen Meerjungfrauen, sagenhaften Bernsteinfunden und lasterhaften Destillerie-Besichtigungen die bedingungslos folgende Crew zusammen zu suchen?

Gesagt, getan! Beim nächsten Stammtisch konnte nach kurzem Marketing und einigen Prösterchen Matthias gewonnen werden, der bereits als Skipper und Ausbilder auf Ost- und Nordsee und dem Mittelmeer jede Menge Törnerfahrung gesammelt hatte, er war als Navigator und Controller vorgesehen. Dann war da noch Moni, die mir angenehm schnell ihr Ja-Wort gab: "Och, klasse, da war ich noch nicht!" Moni, mit diversen Ostseetörns in der Legende, war nicht nur als exzellent steuernde Rudergängerin, sondern auch als Logistik-Managerin vorgesehen. Damit hatte sie die schwerste Verantwortung übernommen, schließlich sollte nach ihren Berechnungen die Verpflegung für drei Wochen gebunkert werden. Dummerweise verdaddelte ich dann später kurz vor Törnbeginn ihre Vorgaben beim Einkaufen in Workum, so dass uns gegen Ende der 1. Etappe ausgerechnet in Norwegen das Bier ausging, aber davon später.

Abends an Bord, nach Kojenverteilung, kleiner Einweisung und Verstauen der privaten Utensilien, gibt es dann noch eine kurze Crew-Besprechung. Alle kultur-philosophischen Aspekte des modernen Abenteuer-Segelns werden noch einmal kurz durchgespült, äh, durchgespielt und beleuchtet: gibt es See-Ungeheuer unterwegs, die auch in die Pfanne passen? Lohnt es sich, nach den vielen Landgängen einen Kneipen- oder Destillerieführer zu veröffentlichen? Wird dort, wo wir hinsegeln, auch gelegentlich mit Messer und Gabel gegessen? Was tragen die schottischen Damen unter ihren Röckchen – wenn sie überhaupt welche anhaben - ? Jedenfalls kulminiert bald die Absacker-Stimmung an Bord.

Samstag dann das mühevolle Einkaufen und Bunkern, fast müssen wir einen Klein-LKW chartern, um all unsere Einkäufe abzutransportieren, und in Holland gibt es schließlich noch keinen Dosenpfand...! Aber wie war das denn noch? Vier Flaschen Rum, drei Konjäckchen, zweimal Wodka und diverse Schläuche Wein, aber dafür nur 130 Liter Bier? Für drei harte Segler über drei harte Wochen? Für diesen logistischen Supergau hätten wir sicherlich nicht den Schlimbach-Preis bekommen. Dafür krieg ich bestimmt noch mal 'nen Eintrag auf die Urne, wenn es soweit ist…: "Als Segler ruht er hier, Wattwurm hieß er – ohne Bier!" oder so. Bin da wohl etwas durcheinander gekommen, mit ernsten Folgen für uns später im norwegischen Tananger. Hauptsache, die Aufgabenverteilung ist gewohnt professionell: Uwe hat den genialen Einfall, unsere Bianca längsseits an die Kran-Pier zu legen, worauf Moni und ich nach dem Einkaufen das voll beladene Auto längsseits an die Bianca legen, damit Matthias es beim Übernehmen und Stauen der Verpflegung nicht so schwer hat.

Ein paar Trimmschläge am Nachmittag von Workum nach Makkum und zurück mit voll ausgerüstetem Schiff, und alle Vorbereitungen sind abgeschlossen. Uwe mustert ab und fährt sein Auto zurück nach Münster, um uns dann drei Wochen später in Skagen abzulösen.

Tja, das war`s eigentlich schon, der Törn selbst ist schnell erzählt.

Sonntag, 13.07.2003, 8:50 Uhr, Auslaufen bei NE 2 Bft., Ziel ist die Insel Vlieland im Wattenmeer. Zunächst ein kleiner Hopser von ca. 8 sm zur Schleuse Kornwerdersand, dann werden wir bei schönstem Picknick-Wetter durch den Abschlussdeich des Ijsselmeeres ins Wattenmeer hinausgeschleust. An Harlingen vorbei, zieht uns der Ebb-Strom nun mit ca. 1,5 kn, so dass wir insgesamt mit ca. 7 kn über Grund schnell vorankommen und völlig entspannt bereits um 15:40 Uhr in Vlieland festmachen.

Völlig entspannt? "Junge, Junge, wo sind denn nur die Nordsee-Übersegler-Karten von 2001 hingekommen?" murmele ich am Kartentisch und habe nach fieberhafter Suche bereits ein mittleres Chaos an alten und neuen Seekarten, diversen Uralt-Hafenquittungen, Schreibutensilien, Ersatzschäkeln, Radiergummis, Zigarettenblättchen und anderem flohmarkt-fähigem Krims-Krams hervorproduziert. "Ohne Übersegler, einfach nur mit Kurs Nordwest nach Schottland bis Land in Sicht ist? Nee, ne Wehrübung soll das nun doch nicht sein!“ denken wir - es sollte dann später gen Norwegen aber doch noch eine werden.... Wie schön, wenn man für alle Missgeschicke und Tölpeleien jemandem die Schuld geben kann, der gerade nicht greifbar ist:"Wo hat Uwe denn jetzt wieder die verdammten Karten hingepackt? Oder er hat sie versehentlich von Bord und mit nach Haus genommen“ kombiniere ich, wäre ja auch total logisch, wenn er später von Skagen aus über Kattegat, Belte und Sund den Dampfer wieder nach Holland zurückführt - mit den Nordsee-Überseglern. Ein kurzes Handy-Gespräch mit Uwe klärt dann schnell alles auf: "In der blauen Laptop-Tasche sind die Dinger, weißt du doch!“ Besagte Tasche haben wir natürlich schon zigmal in den Fingern gehabt, aber so ordentlich und adrett sie aussieht, scheint sie irgendwie nicht richtig wahrgenommen worden zu sein und eigentlich gar nicht zum Schiff zu gehören, was mal wieder zeigt: entweder ein akribischer Stauplan oder die geplante Unordnung, dann geht's!

Mit aktuellen und weniger aktuellen Seekarten und Handbüchern sind wir ganz gut bestückt, für unseren Törn fehlt eigentlich nur ein einziges Kärtchen, das überall in Deutschland und Holland von März bis jetzt vergriffen und einfach nicht zu bekommen ist: der Übersegler von den Orkneys nach Norwegen! Aber keine Panik, die Briten als große Seefahrernation werden solche Seekarten doch wohl doppelzentnerweise an jedem Gemüsestand feilbieten…

Und dann stechen wir richtig in See: Montag, 14.07., 9:40 Uhr, Auslaufen bei ENE 4-5 Bft., gute Sicht, 1023-er Druck, ein dufter Segeltag, unsere Bianca läuft. Ziel ist der kleine, schottische Fischerhafen Eyemouth, Distanz: ca. 290 sm. Nichts los, am Horizont zwei lausige Fischkutter, zwei Möwen machen sich über uns lustig und ganz oben verlieren sich die Kondensstreifen eines Fliegers. Das gefürchtete Verkehrstrennungsgebiet ist schnell durchquert: kein Schiff gesehen! Abwechslung bietet später die fette Bohrinsel Wintershall-N, die wir nachmittags ca. 3 Kabellängen an Steuerbord passieren.

Dummerweise dreht der Wind immer mehr auf E-SE, so dass wir häufig halsen, um raumschots wieder auf Kurs zu gehen, denn platt vorm Laken steht die Fock ohne Ausbaumen nicht und die Gefahr von patenten Halsen möchten wir auch so weit wie möglich vermeiden. Moni zaubert abends einen ihrer unverwechselbaren Bohneneintöpfe, verlängert mit geheimnisvollen Gewürzen und Kräutern aus tausend und einer Nacht, danach kommt unser Dosenbier immer besonders gut…

Zwischendurch hören wir die sehr ausführlichen, halb-stündlichen Küsten-Seewetterberichte von BBC, Whitby-Radio und anderen Küstenfunkstellen für die 12 sm-Gewässer. Nichts Beunruhigendes: E-SE 4-5, zunehmend 6, später SE 3-4. In der klaren Nacht dann mehrmals die tolle Beleuchtung der zahlreichen Bohrinseln, die wir manchmal recht nah passieren.

Auch am nächsten Tag flottes, erholsames Segeln bei östlichen Winden um 3 Bft., allerdings schon mit einer kleinen Dünung von ca. 1,5 m, ansonsten nichts los, kein Schiffsverkehr, nur ein paar Delphine begrüßen uns.

Mittwochnachmittag schläft der Wind dann schließlich fast ein: 0-1 Bft., wir entschließen uns, die Segel zu bergen und die letzten 20 sm nach Eyemouth zu motoren. Das GPS lässt uns die Hafeneinfahrt bei zunehmend diesiger Sicht punktgenau ansteuern. Kaum sind wir durch die enge, mächtige Einfahrt hindurch, tut sich die urige Kulisse von Eyemouth auf: steuerbords die "Altstadt" mit einigen Kneipen, der alten Fischerei-Pier, an der man trockenfallen kann, einer kleinen Fischkutter-Werft, und backbords ein Tiefwasser-Becken für größere Trawler, das auch bei Niedrigwasser für die meisten großen Segelyachten noch genügend Wassertiefe aufweist. Wir kurven bei nahezu Hochwasser durch die Becken und werden schnell vom freundlichen Hafenmeister good old Sir John eingewiesen, der kurz nach unserem Tiefgang fragt und uns dann zur besten Stelle schickt: im alten Becken längsseits neben zwei überholungsbedürftigen Kuttern. Da wir außen im Päckchen liegen, haben wir mit dem immerhin über 4 m starken Tidenhub nichts zu tun und brauchen auch unsere Festmacher nicht ständig zu verändern. Gegen 19 Uhr sind unsere Leinen fest, drei Tage, zwei Nächte und 297 sm stehen seit Vlieland im Logbuch.

Hafenmeister John, ein vitaler Veteran, 72 Jahre alt, Eigner eines Folkebootes, hatte unsere Bianca vor zwei Jahren bei unserem damaligen Schottland-Törn auch schon einmal in Empfang genommen. Er verkörpert den stets hilfsbereiten, gradlinigen britischen Seemann alter Schule, der sich über den Besuch ausländischer Yachten freut und alles Erdenkliche für die Schiffe und ihre Crews tut, wenn Hilfe benötigt wird. So fierte er damals bei ablaufendem Wasser unsere zu kurz gesteckten Festmacher an der Pier im Tiefwasserbecken, als wir gerade einen Landausflug nach Edinburgh machten. Erst vor ein paar Jahren bekam er eine Tapferkeitsmedaille, als er im Sturm, fast ohne Aussicht, mit dem eigenen Leben davonzukommen, einen Fischer rettete.

Am nächsten Morgen starten wir bei schwachen Nordost-Winden um 2-3 Bft. Richtung Firth of Forth, Ziel ist Edinburgh. Ein Umschwung der Großwetterlage kündigt sich an: der Luftdruck fällt auf 1013, und die britischen Wetterberichte kündigen östliche Winde Stärke 4-5 an, süddrehend, später sogar westdrehend, vor Küstennebel wird gewarnt. Wir bekommen gleich einen Vorgeschmack davon: die Sicht wird immer diesiger und langsam bilden sich kleine Nebelfelder. Gefährlich bei schlechter Sicht sind im Firth of Forth nicht nur einzelne Felseninseln und Untiefen, sondern auch eine lebhafte Frachtschifffahrt. Einmal schiebt sich nur ca. 2 Kbl. an Backbord ein großer Frachter an uns vorbei. Andere große Pötte liegen vor Anker und können von uns zunächst nur schemenhaft ausgemacht werden. Wir haben jedoch Glück und der auflaufende Strom schiebt uns weiter in die Bucht hinein, so dass wir gut vorankommen. Für Segler gibt es nur zwei Yachthäfen im Firth: Granton, ziemlich nah an Edinburgh gelegen, mit ausreichend Wassertiefe und Schwimmpontons, und Port Edgar, tief im Fjord, noch westlich der großen Eisenbahnbrücke. Nach unserer Navigations-Bibel, dem Macmillan-Reeds-Nautical-Almanac, soll jedoch in Granton bei kräftigen Nord-, Ost- bis Südwinden "violent Swell" stehen, so dass wir uns entschließen, sicherheitshalber nach Port Edgar weiterzufahren.

Ein Fehler, wie sich später herausstellt, denn Port Edgar ist wahrlich ein fieses Loch. Nach 55 sm machen wir dort um 19 Uhr fest. Halb verfallene Werftanlagen und Schuppen dieser einstigen Marine-Basis mischen sich mit einigen kleinen Firmen, die sich dort angesiedelt haben, an den Schwimmpontons liegen wir nicht gerade ruhig, da von vorbeifahrenden Frachtern genügend Schwell verursacht wird. Die sanitären Anlagen stammen noch aus dem vorletzten Jahrhundert. Das hindert den Hafenmeister nicht, satte 13 Pfund pro Nacht zu kassieren. Aber immerhin, es gibt hier eine Bushaltestelle, und wir können am nächsten Tag per Bus die 20 Kilometer bis direkt in die Altstadt von Edinburgh zurücklegen.

Samstag, 19.07., 9:20 Uhr, wir verlassen Port Edgar bei zunächst guter Sicht, so können wir die durchaus interessante Küste genießen. Vorbei an alten Bunkerstellungen, Felsenklippen, Burgen und Schlössern, passieren wir einen britischen Flugzeugträger, der hier vor Anker liegt.

Unser Ziel ist Lossiemouth, ca. 160 sm nördlich, ein kleiner Fischerhafen an der Südküste des Moray-Firth. Von da soll es dann nur noch ein Katzensprung bis Inverness und in den Caledonian-Canal sein, den wir bis in die Irische See durchfahren wollen, nicht ohne Nessie aus dem Loch zu holen. Als Wegepunkt geben wir zunächst eine Position vor Peterhead in unser GPS ein. Die Fahrt lässt sich gut an, bei südöstlichen Winden um 3 Bft. und einem schiebendem Ebbstrom von knapp 1 Knoten. Doch die Sicht verschlechtert sich zunehmend und die verschiedenen Wetterberichte warnen vor Fog-Patches, Nebelfeldern, und Regenschauern. Mal wieder Zeit also für einen von Moni`s atemberaubenden Eintöpfen, der neue Energien weckt. Dennoch, die Fahrt entwickelt sich zunehmend öde und nervend, denn der Wind schläft ein und eine unangenehme, kabbelige Dünung macht uns das Leben schwer. Um 20 Uhr bergen wir schließlich die Segel und fahren unter Motor weiter in eine neblige, kalte und tropfnasse Nacht. Eine Zeit lang halten uns noch mitschwimmende Delphine bei Laune, bis Matthias plötzlich einen Wal auf- und abtauchen sieht. Gespannt halten wir Ausguck, aber glücklicherweise sind wir nur einem Einzelgänger begegnet, der wohl keine Lust auf unser Motorengeräusch hat.

Die Nebelfelder reißen einige Male auf und wir können einzelne Lichter an der 2 bis 3 sm entfernten Küste ausmachen, bis uns der Nebel wieder verschluckt. Auf Matthias Vorschlag fahren wir, wie schon von Vlieland nach Eyemouth, im überlappenden Drei-Stunden-Wechsel, das bedeutet für jeden von uns eine Wache von sechs Stunden und eine ebenso lange "Ruhezeit". Damit ist gewährleistet, dass immer zwei Segler zur selben Zeit einsatzbereit sind. An Ruhe oder tiefem Schlaf hindern uns jedoch nicht nur das Motorengeräusch, sondern auch eine ätzende, mittlerweile 1,5 m hohe, teilweise quer laufende Dünung aus Nordost wie auch Südost. Wir sind groggy und zermürbt, als morgens mit Nordkurs knapp 10 sm vor Peterhead plötzlich der Nebel etwas aufreißt und uns ein eisiger Schrecken durch die Glieder fährt: rund eine halbe Meile vor uns, wie im Horror-Krimi, graue Vogel-Felsen, an denen weiße Gischt mit Getöse hochsteigt! Ich reiße das Ruder herum, falle 40 Grad ab, Moni und Matthias stürzen an den Kartentisch und überprüfen den Wegepunkt. Kaum hat mich ein Blick auf das Echolot etwas beruhigt, immerhin haben wir rund 25 m Wassertiefe, mache ich steuerbord voraus ein schwarzes Etwas aus, offenbar ein sehr schnelles Motorboot, das mit schäumender Bugwelle auf uns zuhält... Wahnsinn, inmitten der nebeligen Kabbel-Dünung bekomme ich eine Superdröhnung Adrenalin verpasst: das schwarze Motorboot entpuppt sich als dunkle Monsterklippe, an der zähnefletschend die Brandung tost und wir halten voll drauf zu! Und das an Steuerbord-Voraus!

Nur noch weg! Ich reiße die Bianca herum und laufe mit 170-Grad-Kurs in die neblige Nordsee ab! Das ist gerade noch `mal gutgegangen. Wie sich herausstellt, ist die Ursache ein kleiner Eingabefehler beim Festlegen des Wegepunktes, der uns an der Steilküste südlich von Peterhead geradewegs in eine Felsenbucht geführt hat! Der Nebel will uns jetzt fertigmachen: Sichtweite nur noch 20 m. An eine Weiterfahrt nach Lossiemouth denkt keiner mehr. Matthias funkt den Hafenmeister von Peterhead an, der uns hoffentlich auf seinem Radarschirm hat und uns in den Hafen lotsen soll. Das klappt vorzüglich, zwei Bootslängen vor uns taucht schließlich ein großer, turmähnlicher Molenkopf auf. "Verdammt, ist es jetzt der Backbord- oder Steuerbord-Molenkopf?" Nicht schon wieder in ein Felsen-Labyrinth hineingeraten! Die Einfahrt ist ca. 100 m breit, aber die zweite Mole ist nicht zu sehen und vom Hafenmeister hören wir auch nichts mehr, denn unser Radar-Echo wird sicherlich von den Echos der gewaltigen Außenmolen überlagert. Rein intuitiv legen wir den Turm nach Steuerbord und tuckern vorsichtig mit langsamer Fahrt weiter, als urplötzlich wie von Geisterhand der Nebelvorhang aufgezogen wird und wir bei schönstem Sonnenwetter durch das weite Vorbecken mit den Fracht-Piers und Versorgungsschiffen schippern: beste Sicht, wärmende Sonne, eine komplett andere Welt! Um 9:30 Uhr machen wir in der vorzüglichen Marina an Schwimmpontons fest, müde und geschlaucht nach einer 111 sm langen Fahrt durch Nacht und Nebel.

Hier treffen wir zum ersten Mal einige weitere Segeltouristen, Holländer, Schweden, einen Dänen, sogar eine französische 9 m-Yacht mit dem Ziel Shetlands wird zum Auslaufen vorbereitet. Zwei bekloppte, von langen Bärten zugewucherte französische Studenten sind mit dem Nachbau eines offenen, ca. 7 m langen Wikingerbootes nur mit Segeln und Rudern, ohne Motor, unterwegs rund Großbritannien, sie tragen die historische Kluft mit Hackebeil und Schwert, aber sie mogeln doch: einer benutzt ein Handy. Man fragt uns nach dem Wetter draußen, diesen dichten Nebel nimmt uns hier unter der Sonne jedoch keiner ab und von der Marina aus ist nicht zu erkennen, was draußen los ist. So laufen schließlich drei Segelyachten aus – und kehren bereits nach 40 Minuten wieder zurück. Wir beschließen, einen Liegetag einzulegen und Kraft zu tanken für die nächsten Tage. Der Plan, Inverness und den Caledonian-Canal anzusteuern wird nach langem Grübeln fallengelassen: die Gesamtzeit für den weiteren Törn wird einfach zu knapp. Statt dessen wollen wir nun lieber auf direktem Weg über Wick zu den Orkneys, wenn alles bestens läuft, eventuell noch zu den Shetlands und später von dort dann nach Norwegen. Allerdings mache ich mir langsam Sorgen, die Übersegler-Karte nach Norwegen ist nirgends zu bekommen, nicht nur die Gemüsestände sind ausverkauft, kaum jemand scheint solche Törns zu fahren und dementsprechend werden diese Karten nur selten wieder aufgelegt. So empfehlenswert dieser Hafen auch ist, die Stadt Peterhead kann man getrost vergessen. Schmutzig-grau präsentiert sie sich, überall ein Hauch wirtschaftlicher Rezession in der bedrückenden Atmosphäre, Schottland scheint vom Boom des Nordsee-Öls nicht besonders zu profitieren.

So laufen wir voller Tatendrang am Montag, dem 21.07. aus, zunächst zur Tankpier. Wir tanken 46l subventionierten Marine-Diesel, den Liter für 32 Pence, das entspricht ungefähr 48 Eurocent. Unser Dieseltank fasst ca. 60 Liter und wir haben noch zwei 10-Liter-Kanister in Reserve. Mit 80 Litern ergibt sich eine theoretische Reichweite von gut 200 Seemeilen ohne Beeinträchtigung durch Wind, Welle und Strom, bei einem Verbrauch von ca. 1,5 Litern je Stunde Marschfahrt mit 4 Knoten… Das beruhigt, eine Flaute kann uns also nicht viel anhaben! Flaute? Bei SSE-Wind um 5 Bft. machen wir zügig Fahrt und stehen am späten Nachmittag ca. 30 sm vor Wick, weit draußen auf dem Moray Firth, als sich eine furchterregende Gewitterfront nähert: pechschwarz, alle 2 Minuten Blitz und Donner, echte Endzeit-Stimmung! Wir sind ziemlich beeindruckt, starten den Motor und bergen vorsichtshalber die Segel. Wer weiß, welch` eine Böenwalze gleich noch über uns herfällt?

nd dann kommt er: ein gewaltiger Wolkenbruch überschüttet uns, begleitet von einer ausgewachsenen Gewitterböe, die die Fontänen der Regentropfen flach über die See peitscht. Die Sicht sinkt auf vielleicht hundert Meter, während Moni und Matthias in der Kajüte Zuflucht gesucht und die Schotten dicht gemacht haben. Ich muss mich am Ruder ganz schön zusammenkauern, um nicht vom prasselnden Regen akupunktiert zu werden. Nach einer halben Stunde hat sich alles wieder normalisiert, der Regen hat aufgehört und es kracht und gewittert jetzt nur noch vereinzelt weit draußen auf der Nordsee. So haben wir noch eine schöne und interessante Nachtansteuerung von Wick, wo wir um 1 Uhr nach 73 Seemeilen längsseits neben einer rund 17 m langen, norwegischen Segelyacht festmachen.

Am nächsten Morgen kommen wir mit dem norwegischen Skipper ins Gespräch. Er will mit seiner Familie weiter zu den Orkneys nach Stromness und dann hinunter nach Irland. Ganz unbefangen frage ich ihn nach einer Nordsee-Übersegler-Karte, und er hat tatsächlich eine für uns übrig! Ein ausgefranstes Schätzchen von 1979, mit Blut- und Kaffee-Flecken und zwanzig Jahre alten Positionseintragungen, aber immerhin! Die aktuellen Bohrinseln fehlen zwar darauf, im GPS-Zeitalter können wir damit aber den Überblick behalten, an welcher Stelle der norwegischen Küste wir schließlich herauskommen. Am liebsten würde ich jetzt mit dieser Yacht zusammen auslaufen, eine bessere Navigationshilfe kann man sich im Klippen- und Inselgewirr des für seine starken Gezeitenströme berüchtigten Pentland-Fjords nicht wünschen, doch meine Crew möchte noch einmal einen geruhsamen Hafentag einlegen.

So schlendern wir am späten Vormittag durch das überraschend sehenswerte Städtchen. Das Besondere an Wick sind nicht nur parkähnliche Grünanlagen, eine Fußgängerzone mit einigen Geschäften und Kneipen und ein kleiner Fluss, der sich durch den Ort schlängelt, sondern eine Whiskey-Destillerie, die sogar im Stadtplan verzeichnet ist. "Old Pulteney", eine altehrwürdige Destillerie, gegründet 1826, ist schnell gefunden. Voller Vorfreude betreten wir die Geschäftsräume, wo man uns einigermaßen erstaunt willkommen heißt: ausgerechnet jetzt herrschen Betriebsferien! Nur einer Stallwache von zwei einsamen Büroangestellten verdanken wir, wenigstens die Ausstellungsräume mit historischen Bildern und diversen Utensilien aus alter Zeit besichtigen zu dürfen, nicht ohne vom sehr hübschen Teil der Stallwache einige Whiskey--Pröbchen serviert zu bekommen: "Mmmh!" Anstandshalber kaufe ich eine Flasche 12 Jahre alten Single Malt. Mit dieser fetten Beute ziehen wir uns gut gelaunt in eine Altstadt-Kneipe zurück.

Mittwoch, 23.07., 8 Uhr: Leinen los! Ziel ist das Städtchen Stromness auf den Orkneys, mit kleinem Fischerhafen und großem Fähranleger. Wegen der Tide sind wir früh auf den Beinen, wir können bei schwachem Südwind den knapp 2 Knoten starken Ebb-Strom in Richtung Nord nutzen und haben recht gute Sicht. Der Wetterbericht kündigt jedoch bereits für Irland und westlich Schottland Tiefausläufer mit Starkwind und Sturmböen an.

Wir haben Glück, bei leichtem SSE-Wind um 2 bis 3 Bft.. überqueren wir den Pentland-Fjord, vorbei an respekteinflößenden Klippen und alten Geschützstellungen, und laufen in die Bucht von Scapa Flow ein. Nach dem 1. Weltkrieg versenkten die deutschen Besatzungen der unter Bewachung internierten deutschen Schlachtschiffflotte hier ihre Schiffe, nachdem durchsickerte, dass diese den Briten entgegen aller Abmachungen doch noch ausgeliefert werden sollten. In der Seekarte zeugen davon noch einige Wrackzeichen und selbst in dem Städtchen Stromness sieht man in manchen Kneipen noch historische Fotos alter deutscher Schlachtschiffe, die hier untergingen.

Bereits um 14:50 Uhr machen wir nach angenehm schlappen 31 Seemeilen in Stromness fest, sehr geschützt im hintersten Winkel des Fischerhafens, außen im Dreier-Päckchen. Vorteilhaft, denn dadurch haben wir auch hier wieder keinen Leinen-Stress durch die Tide. Der Tidenhub verringert sich im Norden immer mehr, in Stromness sind es nur noch gut 2,8 m. Der Ort hat Flair, wir entdecken eine gemütliche Altstadt mit Fußgängerzone, verwinkelte Gassen und spielfilmreife Landhäuser mit gepflegten Gärten, in denen sogar vereinzelt `mal eine Palme zu finden ist! Ein Tipp ist die Kneipe "Ferry Inn", deren Wände vollständig mit alten Seekarten tapeziert sind, auch auf den Tischen liegen Seekarten unter Glas. Eine gut sortierte, nostalgische Musicbox mit Rock-, Pop- und Folk-Singles der letzten 35 Jahre schafft eine urige Atmosphäre.

Die Nächte sind um diese Jahreszeit hier im Norden jetzt schon recht kurz und verlieren auch bei Starkwind weitgehend ihre Schrecken, da man häufig genügend Helligkeit hat, um die Wellen gut auszusteuern. So denke ich einen Augenblick lang an einen Abstecher zu den Shetland-Islands: bis nach Lerwick, dem Hauptort dieser Inselgruppe, sind es nur noch 110 Seemeilen! Zu verführerisch wäre es, dort einmal anzulegen, wie gern würde ich jetzt die drei Tage mit der Ansteuerung, dem Liegetag und dem Auslaufen von Edinburgh dafür hergeben! Aber diese Träumereien werden schnell wieder verworfen, die Restzeit ist einfach zu knapp. Eine gute Entscheidung, wie sich wenig später zeigen wird.

Donnerstag, 24.07., die große Überfahrt nach Norwegen. Wir müssen warten mit dem Auslaufen, damit wir den Gezeitenstrom des auflaufenden Wassers durch das Orkneys-Archipel und den Pentland-Fjord nutzen können. Das Barometer macht mich unruhig: nur 1004, was braut sich da zusammen? Beim freundlichen Hafenmeister lasse ich mir schnell noch den aktuellen Wetterbericht per Fax ausdrucken. Nichts besonderes: für Donnerstag SW, 15 bis 20 Kn, perhaps localy 25 Kn, also 4 bis 5, in Böen 6 Bft., doch Achtung: Gusts 32 Kn, Starkwindböen Stärke 7! Doch die Beruhigung gleich hinterher: Outlook for Friday, Wind backing SE, 10 bis 15 Kn, Gusts 22 Kn. Per Handy rufen wir Uwe in Münster an, er sitzt gerade am Rechner und holt uns die Wetterlage aus dem Internet: "Alles clean, ein Tief schleicht sich westlich Schottland heran, nördliche Nordsee alles o.k.!“ Na also!
Gegen Mittag bunkern wir Wasser, schließen eine neue Gasflasche an und verholen zur Tankpier. Mit vollem Dieseltank laufen wir eine halbe Stunde später bei schönstem Sonnenschein aus. Der Wind hat kräftig zugelegt, zwischen den Hügeln der einzelnen Inseln wird er durch den Düseneffekt noch einmal beschleunigt, ich schätze Südwind um 6 Bft.. Wir setzen das 2. Reff und die 12 m² große Fock 3. Genau die richtige Segelfläche, und wir rauschen zwischen den Inseln ohne störende Wellen dahin.

Kaum laufen wir in den Pentland-Fjord hinein, schwächt sich der schöne Segelwind ab. Um 17 Uhr passieren wir bei nur noch 2 Windstärken aus Süd die berüchtigte Klippenreihe "Muckle Skerry". Bei diesem leichten Wind sind an verschiedenen Stellen großflächige Stromwirbel zu erkennen. Ein etwas unheimlicher Ort. Der Wind schläft fast ein und eine nervige, über 1,5 m hohe Dünung kommt von Süden auf. Gleichzeitig ziehen von Südwest schwarz-dunkle Wolkenwände auf, das Baro steht bei 1007. Wieder einmal ist kein Schiff zu sehen. Wir bergen die Segel und motoren allein auf weiter Flur in die Nacht hinein, begleitet nur von diesen niedlichen, kleinen Puffins, Seevögel mit einem großen, bunten, papageienähnlichen Schnabel.

Um 4:20 setzen Moni und ich die Segel, der Wind ist zurück, ein "Dreier" aus Süd-Südost. Drei Stunden später haben wir schon Böen, Stärke 6, es wird ungemütlich und wir stecken das 1. Reff. Glücklicherweise fahren wir noch die Fock 3, so dass niemand aufs Vorschiff muss, um eine vielleicht zu große Fock auszutauschen, denn auch die Wellenhöhe liegt jetzt schon bei gut 2,5 m. Dafür ist der Speed ausgezeichnet, nach GPS im Schnitt ständig über 7 Knoten. Gegen Mittag sitzen wir dann richtig im Schiet: der Wind hat auf 7 Bft. zugelegt und kommt nun aus SE, wir setzen das 3. Reff und kämpfen uns durch 3 bis 4 m hohe Wellen mit Krönchen hindurch. Glücklicherweise sind keine echten Brecher dabei, so können wir noch einen Am-Wind-Kurs unter gutem Aussteuern dieser Wellenberge segeln.

Bald gesellen sich lang anhaltende, schwere Regenschauer hinzu und wir haben uns innerlich auf einen zähen, langen Kampf eingestellt, eine gute körperliche und auch psychische Kondition sind jetzt Trumpf: Bier wird weitgehend verschmäht, denn auch jeder Gang auf das Bord-WC mit Ölzeugaus- und anziehen und dem Entlanghangeln an den Handläufen gleicht einer schlauchenden Zirkusnummer. Unser Bordklo befindet sich gottlob auf der Backbordseite in Lee, sonst könnten wir gleich bei voller Gefechtsausrüstung in die Plicht pinkeln!

Am späten Nachmittag haben wir häufig minutenlange 8er Böen und dunkle Gedanken kommen bei mir hoch, was wir wohl machen können, wenn der Wind jetzt noch zulegt…
Die Rudergänger haben nun ein schweres Los, Gischt und oft fast waagerecht prasselnder Regen zwingen häufig zum Wegdrehen des Kopfes, bis wieder ein kurzer Blick nach Luv auf den nächsten Wellenberg möglich ist. Die zweite Wache kauert da schon beinahe komfortabel unter der Sprayhood und kann hin und wieder belegte Brote oder ein Paar Snacks anreichen. Unter Deck trieft alles, da Regenschauer und nasses Ölzeug bei den Wachwechseln viel Feuchtigkeit ins Schiff bringen. Matthias träumt von vergangenen Mittelmeertörns mit Sonnenbrandgefahr, Moni von einer trocken gedrehten Zigarette und mir wird ganz schlecht, wenn ich auf unseren Übersegler schaue: wir haben bei diesem steifen Südostwind keine Chance mehr, unser Ziel Egersund in Südwest-Norwegen zu erreichen. Im Gegenteil, der Wind schralt zunehmend auf Ost-Südost und die Windabdrift tut ihr übriges, so dass wir, wenn wir überhaupt heile ankommen, weit nördlich des Stavanger-Fjords unter die norwegische Küste geraten. Über diese, mit felsigen Untiefen gespickte Küste haben wir jedoch keine Seekarten, geschweige denn Detailkarten an Bord…! In meinen schlimmsten Horrorvisionen sehe ich uns schon bis nach Spitzbergen abtreiben – ohne ausreichend Bier an Bord…

Die folgende Nacht verlangt uns noch einmal eine Menge ab. Der Wind bleibt stark, nur der Regen wird schwächer. Mehrere Male ziehen wir an gespenstisch beleuchteten Bohrinseln vorbei. Am nächsten Morgen glauben wir das Gröbste geschafft zu haben: nur noch 60 Seemeilen bis zur Küste und wir machen 7,5 Knoten Fahrt über Grund.

12:40 Uhr: Land voraus! Eine graue Felseninsel mit weißem Leuchtturm schält sich aus dem Dunst, nur ca. 3 sm vor uns! Übersegler und GPS sagen uns den Namen: Utsira, ca. 20 Seemeilen nördlich des Stavanger-Fjords, von dem wir glücklicherweise nagelneue Detailkarten an Bord haben!

Gleichzeitig schwächt sich der Wind auf 4 bis 5 Bft. ab und dreht wie bestellt auf SSW! Dadurch bleibt uns zermürbendes Aufkreuzen erspart und wir können uns hart am Wind mit südlichem Kurs zum Stavanger-Fjord vorankneifen. Gegen 19:30 Uhr haben wir den Nord-Eingang des Fjords erreicht, bergen die Segel und fahren unter Motor durch eine enge Felsenpassage nach Skudeneshavn hinein. Der Regen hat aufgehört und ich steuere bei recht guter Sicht auf den Hafen zu. Plötzlich ein kleiner Schocker und  ne Lachnummer zugleich: mit lautem Zischen aktiviert sich nach 2,5 Tagen Regen und Gischt meine Schwimmweste und klemmt sich um meinen Hals. Ich fühle mich wie ein eingeschnürtes Michelin-Männchen. "Hilfe, schneidet mich frei!" rufe ich Matthias zu. "Moooment, erst mal ein Foto machen!" meint lachend meine Crew. Die Stimmung ist wieder obenauf. Wir tuckern an bunten Holzhäusern vorbei in ein absolut geschütztes Naturbecken und machen um 20:30 Uhr an guten Schwimmstegen fest. Später tragen wir für die Überfahrt 2,5 Tage, 2 Nächte und 311 Seemeilen ins Logbuch ein, insgesamt 56 Stunden Nonstop. Bei einem Bierchen sitzen wir noch eine Weile geschafft und entspannt in der Plicht und genießen den idyllischen Eindruck dieses Naturhafens, bis wir todmüde in die Kojen fallen. Nachts bläst sich dann unter Deck auch noch Monis Weste auf.

Am nächsten Morgen, beim Räkeln in der Plicht, klettert mein Routineblick den Mast hoch und da haben wir den Salat: die Steuerbord-Unterwand ist gebrochen! Mehrere Kardeele haben sich oben aus der Pressing gelöst. Bei der stürmischen Überfahrt haben wir das gar nicht bemerkt. Die Steuerbord-Seite war ja bisher fast ausschließlich die Luvseite und die Belastungen für das stehende Gut auf dieser Seite müssen enorm gewesen sein. Eine Reparatur mit Bordmitteln ist nicht möglich und Ersatzteile bekommt man nur in Stavanger. Aber es ist Sonntag, die Ausrüster werden auch in Stavanger geschlossen haben, so können wir in Ruhe frühstücken und noch einen Spaziergang in den Ort machen.

Danach rufen wir Uwe an: "Wo seid ihr? Mal sehn, ob ich den Ort im Internet finde, ich sitz´grad´ ´mal wieder am Rechner, vielleicht haben die ´ne Webcam!" Keine Minute später: "Ja, ich seh` euch! Mann, ihr müsst aber das Deck besser aufklaren! Bernie, hast du immer noch das Hemd vom 1. Tag an?" Tatsächlich, auf dem Dach des Holzhauses gegenüber ist die Webcam montiert, mit der Uwe uns klar und deutlich im Hafen liegen sieht! Die Zeiten konspirativer Geheimtörns sind wohl endgültig vorbei.

Um 14:30 Uhr legen wir ab und motoren nach Stavanger hinein. Bei SSW-Wind Stärke 1 hat keiner Lust zu dümpeln. Ein schöner, weit verzweigter Fjord, sicherlich ein Wassersport-Paradies, auch bei Starkwind findet man immer geschützte Ecken. Nach 17 sm landen wir direkt im Altstadthafen der Innenstadt, sozusagen im Angesicht der Kneipenmeile und machen an guten Schwimmstegen fest. Wir haben noch Zeit für einen Altstadtbummel und sind schockiert über die Bierpreise: ein halber Liter kostet umgerechnet 7,50 € ! Da hat man beim Pinkeln das Gefühl, es klimpert im Urinal! Wir ziehen weiter und landen zum Schluss noch in einer urigen Kneipe direkt am Kai, in der eine Live-Band spielt. Auch hier gibt es auf irgendeinem Turm eine Webcam, wie Uwe uns später erzählt, jedenfalls hat er unser Schiff wieder ausmachen können.

Montagvormittag ist dann Reparatur- und Logistikzeit. Nur wenige Schritte vom Kai entfernt finden wir einen Ausrüster, der nicht nur die passende Wante, sondern auch den passenden Pressing-Beschlag zum Einhängen in den Mast vorrätig hat, auch zwei Patronen für die Schwimmwesten können wir hier besorgen. In einer Buchhandlung bekommen wir den fehlenden Übersegler Norwegen-Skagen, den wir bis dahin ganz vergessen haben. Außerdem befinden sich direkt am Wasser einige kleine, feste Marktläden, die fangfrischen Fisch verkaufen, mit dem wir uns eindecken. Am frühen Nachmitag ist dann alles erledigt und wir laufen aus nach Tananger, ca. 20 sm südlich von Stavanger. Bei 4-5 Windstärken aus SW kommen wir schnell voran und machen schließlich um 17 Uhr die Leinen fest. Geradeaus, in den großen Tananger-Fjord hinein, kommt man zum größten norwegischen Ölterminal mit Wassertiefen um die 25 m, so dass auch große Tanker hier direkt an den Piers nach Lotsen- und Schlepperhilfe festmachen können. Wir drehen über Backbord ab und landen in einer malerischen, ruhigen Naturbucht. Kleine Wäldchen und gepflegte, große Häuser gut betuchter Eingeborener umsäumen diese Bucht und von hohen, mit Heidekraut bewachsenen Klippen hat man eine tolle Sicht hinaus auf den Schärengarten und die Nordsee. Moni und Matthias zaubern abends dann noch ein bombastisches Fischessen an Bord.

Dienstag dann noch `mal ein Liegetag. Eine Starkwindwarnung hält uns fest, es weht mit Bft. 6 aus Südost, genau dahin müssen wir. Dafür gibt es zum Frühstück Reste von gestern: Knoblauch mit vorzüglichen Lachssteaks. Dann müssen wir uns auf den Weg machen zum einzigen, ca. 4 km entfernten Supermarkt, denn wegen meiner Döspaddelei beim Einkaufen zu Törnbeginn ist uns jetzt das Bier ausgegangen: 130 Liter haben eben nicht gereicht, trotz des schlechten Wetters! Für einen echten Segler ist so ein Fußmarsch schon eine üble Strafe…

Mittwoch, 30.07., 7:10 Uhr, Auslaufen nach Egersund, mühsames Aufkreuzen gegen 6er Wind ist angesagt. Die Wetterberichte sagen mittelfristig schwächere Winde auf Südwest drehend voraus, daher wollen wir es jetzt nun wissen. Eine ruppige Welle erwartet uns, aber es geht. Um 21 Uhr stehen wir vor der Westeinfahrt des Egersund, der Wind hat abgenommen auf Stärke 4 und nun grübeln wir, in welches Mauseloch wir wohl einlaufen sollen. Ohne GPS ist das für Ortsfremde nur bei leichtem Wetter und klarer Sicht möglich. Wir bergen die Segel und motoren uns in die Einfahrt hinein: eine absolut zauberhafte, malerische Idylle tut sich auf, mal felsiger Fjord, mal waldumsäumte Flusslandschaft, so präsentiert sich der schöne Westteil des Sundes. Um 22:30 Uhr legen wir nach 78 sm in Egersund an. Der Ort selbst ist nicht spektakulär schön, aber wir liegen in einer kleinen Box am guten Gäste-Schwimmsteg. Mit den Gezeiten hat man hier nicht mehr so viel zu tun wie in England und Schottland, der Tidenhub beträgt nur noch einen halben Meter. Landstrom bekommen wir nicht, man bräuchte einen Schukoadapter, den wir leider nicht an Bord haben.

Kirkehavn ist unser letzter Hafen in Norwegen, ca. 47 sm südöstlich von Egersund. Um 10:30 Uhr laufen wir aus. Noch einmal Windstärke 6 aus Südost und eine kurze, unangenehme Hackwelle, die man konzentriert aussteuern muß. Um 20:15 Uhr laufen wir dann in den wunderschönen, absolut geschützt liegenden Naturhafen von Kirkehavn ein. Bewaldete Felsenhügel umgeben den kleinen Ort, dessen Wahrzeichen eine knallweiß gestrichene Seefahrerkirche ist. Zu unserem Erstaunen liegt dort ein Holländer mit seiner 31-Fuß-Yacht, Heimathafen ist Lemmer am Ijsselmeer, nur einen Katzensprung von Workum, unserem eigenen Heimathafen entfernt. Im Ort gibt es nur wenige Häuser, einen "Tante-Emma-Laden" und eine Fischerei-Genossenschaft.

Da wir wieder einmal keinen Landstrom an unserem Liegeplatz bekommen und auch noch Diesel und Sprit, sprich Bier, bunkern müssen, verholen wir am nächsten Morgen zur Pier der Fischereigenossenschaft. Dort kann ich ohne große Mühe den jungen Lehrling der Firma überreden, uns eine Kabeltrommel zu leihen und an den Strom anzuschließen. So haben wir die Möglichkeit, mit dem Heizlüfter nach einer knappen Stunde die Kajüte und alle Klamotten trocken zu kriegen. Bei den letzten, nassen Kreuzkursen hat sich unten eine wahre Tropfsteinhöhle gebildet und wir haben ja keine Dieselheizung an Bord. Jedenfalls macht der Junge ein Gesicht, als wären Weihnachten und sein Geburtstag auf einen Tag gefallen, als ich ihm eine von unseren Rum-Flaschen Robby 54 schenke. Im "Tante-Emma-Laden" holen wir noch zwei Paletten Bier und ab geht die Post.

Freitag, 01.08., um 10:30 Uhr legen wir dann ab zum letzten großen Schlag nach Skagen, rund 165 Seemeilen. Anfänglich weht es mit 6-7 Windstärken aus SSE, und wir müssen wieder einmal aufkreuzen. Eine hohe, kurze Dünung, 2,5 – 3 m, macht uns zu schaffen. Wir haben die 17 m² große Fock 2 und das 3. Reff gesetzt. Gerade ist die Grenze zwischen dem Seegebiet Utsira-Süd und Skagerrak-West erreicht. Hier gibt es Bereiche, wo sich die Wassertiefe schlagartig von über 200 m auf nur 25 m verringert, daher besteht auch Gefahr von chaotischen, kurzen Wellen und Kreuzseen bei Starkwind.

Einige volle 7–8er Böen lassen den Dampfer dann doch zu stark krängen, obwohl wir den Traveller ganz in Lee positioniert haben und das Groß sehr offen fahren. Das Vorsegel muß ausgetauscht werden, ein Heidenakt, da wir kein Roll-Vorsegel haben. Moni und Matthias krabbeln mühevoll nach vorn, während ich am Ruder versuche, mit nur halb gefahrenem Groß den Speed soweit zu reduzieren, dass die beiden ohne große Verletzungsgefahren auf dem Vorschiff arbeiten können und gleichzeitig mit der vorhandenen Geschwindigkeit die Wellen noch einigermaßen ausgesteuert werden können. Das Vorschiff hebt und senkt sich wie ein Fahrstuhl, in manchen Wellentälern wird es schon `mal leicht überspült. Nach 20 Minuten kommen beide ausgepumpt mit dem zusammengeknüllten Segel nach hinten in die Plicht und Matthias hangelt sich in die Kajüte, um die Fock 3 zu suchen, zu finden und zu holen. Kaum kommt er damit nach oben, lässt der Wind wie auf Knopfdruck schlagartig nach.

Die Eintragungen im Logbuch: "15:50 Uhr, satte 7 Bft., Fock 2 geborgen, schlagartig nur noch Bft. 4, Fock wieder gesetzt, Reff 3 und 2 ausgerefft; 16:45 Uhr ganz ausgerefft; 17:20 Uhr Bft. 1, besch… Dünung, Segel geborgen, Weiterfahrt unter Motor; 18:50 Uhr S-Wind Bft. 5-6, 2. Reff + Fock 2 gesetzt…"; bis zum Morgengrauen geht das fast endlos so weiter. Außerdem muß nun verstärkt Ausschau gehalten werden, denn eine Menge Fischkutter und auch große Trawler treiben sich hier herum. Um 4:30 Uhr ist es dann soweit: der Wind nimmt ab auf 3 Bft. und dreht weiter auf SSW. Damit haben wir gewonnen. Kurze Zeit später wird die Genua zum ersten Mal auf diesem Törn gesetzt, das Baro steht auf 1020 und die Sonne zeigt sich ganz zaghaft. Um 18:15 Uhr passieren wir die Skagen-Ost-Tonne bei schönstem Segelwetter und um 19:30 Uhr hat Moni die Bianca längsseits an einen Norweger herangeparkt, als zweites Schiff im Päckchen. Perfektes Timing: unsere Ablösung, Uwe und David, ist auch erst eine Stunde da und begrüßt uns nach ca. 1250 Seemeilen an der Pier. Kommt noch hinzu, dass Moni und ich an diesem wunderschönen 2. August Geburtstag haben, was abends an Bord und an Land noch gebührend gefeiert wird…

Am darauf folgenden Sonntagmorgen treten wir per Auto die Heimreise nach Münster an.

Etappe 2

Während wir drei einen ausgesprochen harten und anstrengenden Törn, teilweise auch durch gefährliches Hackwetter absolvierten, konnten Uwe und David nun wie bestellt bestes Urlaubs-Segelwetter genießen. Das Baro rastete bei 1026 ein, kaum ein Wölkchen in den zwei Wochen des Rücktörns, fast nur Sonne und überwiegend moderater Wind aus der richtigen Richtung. Sogar der Spi kam zu Ehren.

So segelten sie am 03.08. von Skagen nach Laesö, von dort dann nach Anholt und legten abends am 05.08. bereits in Ebeltoft an.

Es war der Jahrhundert-August 2003: mit 1-2 Windstärken aus SE und einem Baro-Stand von 1031 schlichen sie weiter von Ebeltoft nach Ballen auf Samsö und segelten schließlich über Lundeborg und Marstal nach Kiel, von wo es durch den NOK nach Cuxhafen ging.

Ein Abstecher nach Helgoland musste natürlich auch noch sein, konnte man doch dort auf dem Fuselfelsen günstig flüssigen Nachschub bunkern. Dann gings weiter nach Vlieland, wo sich der Kreis fast wieder schloss. Ein letzter Hopser durchs Wattenmeer zur Schleuse Kornwerdersand, und man gönnte sich noch einen Tag in Makkum.

Am 16.08.2003 lief unsere brave Bianca wieder in Workum ein, rund 550 Seemeilen hatten Uwe und David ausgeruht zurückgelegt. Insgesamt ein unvergesslicher Törn über 2 Etappen mit ca. 1800 Seemeilen in 5 Wochen. Die Küsten von Holland, Schottland, Norwegen, Dänemark und Deutschland lagen in unserem Kielwasser.

Tja, und was kommt in 2004? Ein neuer Törn ist schon längst wieder geplant:
Insel-Hopping in der nördlichen Südsee, ähh, südlichen Nordsee… oder so!

Mast- und Schotbruch,
Euer Wattwurm